Meine Stellungnahme zum Thema "Genitalverstümmelung"

FÜR DIE Experten-ANHÖRUNG IM LANDTAG NRW AM 3.6.2019

Die Stellungnahme als pdf zum Runterladen

 

 

Bezug: Antrag von CDU/FDP, (Drucksache 17/5067), dem sich SPD und Bündnis 90 / Die Grünen offenbar zwischenzeitlich angeschlossen haben, und Antrag der AFD, Drucksache 17/5071

gerichtet an den Landtag NRW, 17. Wahlperiode, Stand jeweils 12.2.2019

 

Anlass: 

Anhörung am 3.6.2019 um 14:30-16:30 h, im Landtag Nordrhein-Westfalen, Raum E3 D01

 

Weitere geladene Expertinnen:

Jawahir Cumar (Stop Mutilation),

Ibrahim Gueye (Afrikanischer Dachverband),

Prof. Dr. Daniel Zerbin (Kriminalwissenschaftler),

Dr. med. Christoph Zerm (Gynäkologe),

 

Inhalt: 

 

Zu Ihren Überschriften und der damit ausgedrückten Intention: 

Kinder sind alle: Mädchen, Jungen, intersexuell geborene Menschen - und alle brauchen sie Schutz

Erwachsene können ihr Recht auf Selbstbestimmung meist selbst verteidigen - sie brauchen Aufklärung

 

Ein paar Ergänzungen zu Ihren Anträgen: 

Warum die Betroffenen-Zahlen zugenommen haben

Die Einwanderung ist nur ein Teilaspekt 

Es wird aufgeklärt, wir wissen daher mehr 

Die Verbreitung des Islamismus befördert auch Genitalverstümmelung 

Wir brauchen mündige BürgerInnen - und nicht beschnittene 

 

Keiner der Anträge erfasst das System, in den Beschneidungen stattfinden. 

Aber es braucht den systemischen Blick für einen wirksamen Kampf gegen die weibliche Genitalverstümmelung

 

Beispiele, wo wegen der Jungenbeschneidung die Sache der Mädchen geschwächt wird:

1. Die mangelnde Wirksamkeit von §226a StGB

  - Eingestellter Prozess trotz xfacher Mädchen-Beschneidung in den USA

  - Wie es vermutlich in Deutschland laufen würde

  - Der Ausweg: alle Kindern schützen!

2. Das System, in dem Beschneidung stattfindet

  - Beschneidung - ein Akt der Loyalität gegenüber den Eltern 

  - Frauenbeschneidung ist nicht nur Frauensache

  - Beschneidung ist eine Machtausübung: Männer über Frauen, Ältere über Jüngere

  - Warum sollte ein Vater, der die größte Macht in diesem System hat, seine Tochter schützen? 

 

Die Lösung: 

Die gesetzlichen Grundlagen sind alle bereits vorhanden  

  - Warum fällt die Anwendung so schwer? 

 Eigentlich ist es ganz einfach: 

  - „Man tut Kindern nicht weh“

  - „Erwachsene haben an den Genitalien von Kindern nichts verloren“. 

 

Der Weg dahin: 

Erst mal vor der eigenen Türe kehren

Genitalbeschneidungen - 300 Jahre medizinisch begründete Misshandlungen in Europa

Zahlen zur Jungenbeschneidung: religiöse und traditionelle Beschneidungen sind der kleinste Teil

Das zahlenmäßig größte Problem sind die falschen Phimosebeschneidungen

Es gibt auch beschneidungskritische Juden - 

Der ständig bemühte Antisemitismus-Vorwurf gegen Beschneidungskritiker ist nicht zutreffend

Aufklärung ist der 1. Schritt auf einem längeren Weg

Es ist nachvollziehbar wie es zum §1631d kam. Nur darf es dabei nicht bleiben.

Abgesehen von der Moral: Auch unser Grundgesetz verpflichtet! 

Nur wenn man Steine ins Wasser wirft, können sie ihre Kreise ziehen 

 

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Zu Ihren Überschriften und der darin ausgedrückten Intention

 

Drucksache 17/5067 von CDU/FDP:  

„Genitalverstümmelung ist eine Menschenrechtsverletzung - Verletzungen von Körper und Seele von Kindern, Mädchen und Frauen entschieden entgegentreten“ 

 

Drucksache 17/5071 von der AFD:

„Genitalverstümmelung - wirksame Hilfen für die Opfer“

Kinder sind Mädchen, Jungen, intersexuell geborene Menschen - und alle brauchen sie Schutz

 

Auf den ersten Blick scheinen Ihre Überschriften die juristischen und gesellschaftlichen Forderungen und Stellungnahmen aufzugreifen, die sich in den letzten sieben Jahren entwickelt haben und die rund um den Welttag der genitalen Selbstbestimmung zusammengefunden haben. Diese sagen: Genitalverstümmelungen, also nicht medizinisch indizierte Eingriffe, betreffen alle Kinder. Die Unterstützer des Welttages fordern deshalb die Einhaltung der Grund- und Menschenrechte (Selbstbestimmung, körperliche Unversehrtheit, Gleichheitsgrundsatz, Religionsfreiheit) für aller Kinder: Mädchen, Jungen und intersexuell Geborene. Die Unterstützer sind: 

•  Ärzteverbände der Kinderchirurgen, Urologen, Kinder- und Jugendärzte, sowie die Deutsche Gesellschaft für Psychosomatische Medizin und Ärztliche Psychotherapie e.V. (DGPM), die die wissenschaftlichen Grundlagen für diese Forderungen geliefert haben;

•  Ärzte und Professoren der Medizin wie etwa Prof. Dr. med. Matthias Franz, Prof Dr. med. Maximilian Stehr, Dr. med. Ulrich Fegeler, Dr. med. Kolja Eckert, Dr. med. Christoph Kupferschmid, Dr. med. Wolfgang Bühmann, Dr. med. Christoph Zöllner, Dr.med Wolfram Hartmann, die hier geforscht und sich positioniert haben; 

•  Professoren der Rechtswissenschaften: Strafrechtler wie Rolf Dietrich Herzberg, Holm Putzke, Jörg Scheinfeld, Ralf Eschelbach, Richter am Bundesgerichtshof, die die Rechtslage erkundet haben; 

•  die Organisationen: pro familia, Terre des Femmes, Giordano-Bruno-Stiftung, Bundesforum Männer, die säkulären Grünen mit ihren Stellungnahmen zu Genitalverstümmelung und genitaler Selbstbestimmung; 

•  eine alljährlich wachsende Zahl von inzwischen fast 60 Menschen- und Kinderrechts-Organisationen aus 13 Ländern und 5 Kontinenten, die den Welttag der Genitalen Selbstbestimmung seit seiner Gründung 2013 unterstützen; 

•  und universitäre Arbeiten, z.B. gerade aktuell: Bachelorarbeit von Melanie Klinger im Studium der Sozialen Arbeit, Universität München 2019, oder auch von 2013: Bachelorarbeit des amerikanischen Juden Shemuel Garber 

Die Texte Ihrer Anträge aber befassen sich nur mit Mädchen, also mit weniger als der Hälfte von aller Betroffenen. Und indem Sie nur auf das Phänomen der Mädchen- und Frauenbeschneidung schauen, fehlt der tiefere Blick auf das System, in dem das alles stattfindet, in dem die Beschneidung der Jungen integraler und stützender Bestandteil ist.

 

Erwachsene können Ihr Recht auf Selbstbestimmung meist selbst verteidigen

- Sie brauchen Information und Aufklärung

 

Sie beziehen auch erwachsene Frauen in Ihre Schutzbemühungen ein. Hier müsste differenziert werden: 

 

Richtig ist der Schutz für Frauen, wo - in patriarchal strukturierten gesellschaftlichen Gruppen - Frauen nicht die Macht haben, sich selbst zu schützen. Mit der Aufnahme der frauenspezifischen Fluchtgründe in unser Asylrecht wurde darauf schon sehr richtig reagiert. Frauen, die vor Genitalverstümmelung fliehen oder ihre Kinder schützen, brauchen Asyl. Betroffene Frauen, die hier leben, angemessene medizinische Betreuung. 

 

Nicht richtig finde ich es für den Fall, dass eine volljährige Frau oder ein volljähriger Mann selbstbestimmt wählt, sich beschneiden zu lassen. Als mündige(r) BürgerIn ab 18 Jahren würde er/sie nach unserem Grundgesetz damit ihr/sein Recht auf Selbstbestimmung ausüben: „ästhetische“ Vorstellungen der eigenen Körpergestaltung, bei Juden oder Moslems ihr Recht auf Religionsfreiheit bzw. traditionelle Verbundenheit, und es gibt auch Frauen, die glauben, Beschneidung sei für sie gut und richtig. Diese Webseite z. B. wirbt für weibliche Genitalverstümmelung. 

 

Was „Werbung für Abtreibung“ ist oder nicht, war ja gerade wieder ein großes Diskussionsthema. Doch Ärzte und Interessengruppen, die für Beschneidungen werben, „Schönheits“-Chirurgen, die „Korrekturen“ am weiblichen Genital anbieten oder Beschneidungen an Jungen und Männern propagieren wie zum Beispiel hier können ihre werbenden Angebote munter verbreiten. Ich sehe hier ein merkwürdiges Ungleichgewicht.

 

Das Feld der kosmetisch-„ästhetisch“ motivierten weiblichen Genitalverstümmelung fand in keinem Ihrer Anträge Erwähnung. Fakt ist, dass manche Mädchen, die ihren Körper nicht so annehmen können, wie er sich entwickelt, von Beschneidung träumen, dass es Chirurgen gibt, die diesen Markt bedienen und Eltern, die womöglich mitmachen. 

 

Hier muss der Staat aufklären und wissenschaftlich abgesicherte Informationen zur Verfügung stellen, bei Minderjährigen auch Verbote aussprechen. 

 

Doch meine Suche bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung unter den Stichworten

Klitoris, Vorhaut, Genitalverstümmelung, Beschneidung, Phimose … 

führte in allen Fällen zum immer gleichen Ergebnis: 

"Leider wurden für Ihre Eingabe keine Ergebnisse gefunden.“ 

 

Dieses Aufklärungs-Vakuum müsste dringend auch staatlicherseits gefüllt werden.  

 

Ein paar Ergänzungen zu Ihren Anträgen

 

In manchen Ethnien werden Mädchen gleich am Tag nach der Geburt beschnitten. Für meinen Dokumentarfilm „Hibos Lied“ habe ich bei den Afar in Äthiopien eine Beschneiderin interviewt, die genau dies macht.

 

In der aktuellen Situation mit Blick auf den allgemeinen Wissensstand finde ich wichtig zu differenzieren: dass etwa 80% der betroffenen Frauen eine Exzision, die Beschneidung von Klitoris und inneren Schamlippen, erleben und nur etwa 15% die schlimmste Form der Infibulation, wo das Geschlecht bis auf eine winzige Öffnung zugenäht wird. An letzteres denken fast alle, wenn sie „weibliche Genitalverstümmelung“ hören.

 

Es gibt aber auch noch weniger invasive Formen, etwa das Ritzen der Klitorisvorhaut. Trotzdem können Kinder oder Frauen, die davon betroffen waren, später daran leiden und Behandlung brauchen, weil der Übergriff auf ihren Seelen Spuren hinterlassen hat. 

 

Es braucht aktuell diese differenzierende Aufklärung, weil schon allein durch die Wortwahl „weibliche Genitalverstümmelung“ und „Jungenbeschneidung“ wird eine Polarisierung und zwei scheinbar nicht vergleichbare Welten eröffnet, die - differenziert hingeschaut - durchaus vergleichbar sind. Auch in Afrika - und nicht nur dort - sterben Jungen an Beschneidungen und werden furchtbar verstümmelt. Siehe z.B.  diese südafrikanische Dokumentation

Für die Situation in Deutschland stellte der Kinderchirurg Christoph Zöllner 2014 auf dem Kongress der Deutschen Gesellschaft für Chirurgie seine Studie über Komplikationen nach männlicher Beschneidung vor, deren Ausmaß, wie er darlegte, „von geringfügig bis lebensbedrohlich reichen kann“. Er berichtete über 83 minderjährige Patienten, die er zwischen 2005 und 2012 wegen Komplikationen nach Beschneidung in der Klinik der medizinischen Hochschule Hannover behandelte. Einem davon musste er nach versuchter ritueller Beschneidung den Penis amputieren, um ihm das Leben zu retten. Er errechnte, dass in Deutschland pro Jahr etwa 400 Jungen nach Beschneidung mit schweren Komplikationen stationär behandelt werden. 

 

Ich will hier die Genitalverstümmelungen an Frauen in keiner Weise bagatellisieren, nur eines klar machen: Die Argumentationsschiene des Vergleichens ist eine Sackgasse, die jahrzehntelange Arbeit im Kampf gegen die weibliche Genitalverstümmelung gefährden kann: 

 

In Indonesien etwa werden medikalisierte, minimal-invasive Mädchenbeschneidungen unter Narkose durchgeführt. Zu ihrer Begründung werden dieselben Relativierungen wie bei der Jungenbeschneidung bedient: 

• Das Kind weiß das später dann nicht mehr

• Es tut nicht weh

• Es ist eine Aufnahme in einen Kulturkreis

• Es hat eine wichtige kulturelle Dimension: Reinheit, Tradition, Religion.  

Wieviel darf man erlauben abzuschneiden, um die Wünsche von beschneidenden Gesellschaftsgruppen zu bedienen? Wo muss man die Grenze ziehen?

 

„Über eine Vergleichbarkeit des körperlichen Eingriffes kann man streiten. Aber wo ist der Unterschied beim Übergriff? Wo ist der Unterschied, dass hier Kindern unnötig Leid angetan wird? Wo ist der Unterschied, dass Kinder hier zu Objekten gemacht, ihnen das Recht aus Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit genommen wird?“ schrieb mir ein betroffener Mann. Ich finde, er hat recht. 

 

Die Antwort bieten die Menschenrechte: Jeder Eingriff am Genital eines Kindes, egal, ob Mädchen, Junge oder intersexuell geboren, sollte Tabu sein - sofern er nicht nach dem aktuellen Stand der Wissenschaft medizinisch begründet nötig ist. So ist es aber in Deutschland derzeit nicht. 

 

Wenn man das Thema der weiblichen Genitalverstümmelung wirksam bekämpfen will, müssen nach heutigen Erkenntnissen, die so noch nicht vorlagen, als 2012 der §1631d verabschiedet wurde, solche Fragen diskutiert werden. Diese Betrachtung fehlt in Ihren Anträgen. 

 

Warum die Betroffenenzahlen zugenommen haben

 

Die Zahlen, die von der AFD genannt wurden - weltweit sogar bis zu 200 Millionen Frauen, die beschnitten sind -  sind die 2016 von der UNO veröffentlichten. Die Statistik im Antrag von CDU und FDP, wo lediglich von 130 Millionen betroffenen Frauen weltweit ausgegangen wird, ist veraltet. 

 

Die Einwanderung ist nur ein Teilaspekt 

 

Die Betroffenenzahlen bei der weiblichen Genitalverstümmelung haben tatsächlich trotz seit Jahren laufender Aufklärung und gesetzlicher Verbote in vielen Ländern weiter zugenommen. Allerdings hat diese Zunahme - auch in Deutschland - nur zum Teil mit Einwanderungen zu tun. Die AFD aber beschwört hier das nicht zutreffende, bedrohliche Szenario einer „anhaltenden Masseneinwanderung nach Europa und insbesondere nach Deutschland“, einer Einwanderung, die 2015 einen Höhepunkt hatte, die aber nachweislich seither stark zurückgegangen ist. 

Das ist eine nicht akzeptable Instrumentalisierung des Phänomens der Genitalverstümmelung für fremdenfeindliche Zwecke!

 

Es wird aufgeklärt, wir wissen daher mehr 

 

Tatsächllich hat Aufklärung dazu geführt, dass man mehr weiß, dass Zahlen erhoben und neue Gruppen gefunden wurden, die auch beschneiden: die Kurden im Nordirak oder die medikalisierten Beschneidungen in Südostasien. 

Und besonders in Afrika auf dem Land, wo sich alte Bräuche immer länger halten, gibt es stark steigende Bevölkerungszahlen, also auch mehr Frauen, die für die Beschneidung in Frage kommen - dies trotz laufender Aufklärung, die dringend weiter gefördert werden muss. 

 

Unter III.4. fordert die AFD in ihrem Antrag die Vergabe von Entwicklungshilfen an die wirksame Bekämpfung von weiblichen Genitalverstümmelungen in den Empfängerländern zu knüpfen. Diese Konditionierung scheint mir nicht sinnvoll. Geld sollte für präzise Projekt zweckgebunden vergeben werden. Es sollte durch ordentliche Planung und Controlling überwacht werden, was damit geschieht, und Korruption unterbunden werden. Aber wenigstens gab es hier eine Überlegung zur Ursachenbekämpfung außerhalb Deutschlands. Im Antrag von CDU/ FDP fehlt die Überlegung ganz und müsste ergänzt werden. 

 

Bei der Förderung von Projekten vor Ort kommt es, finde ich, entscheidend darauf an, Aufklärung auf Augenhöhe zu betreiben, also weder mit dem Holzhammer noch mit der Haltung eines Vertreters einer angeblich höher stehenden „Kultur des Abendlandes“, der gekommen ist, um „barbarische Sitten“ auszuräumen. 

 

Wo Gelder in sehr guten Händen landen würden, ist beim Förderverein feuervogel.org der Schattentheaterspielerin Regina Fährmann. Seit bald 20 Jahren wirkt sie in Burkina Faso. Mit einheimischen Bauern hat sie dort aufklärende Theaterstücke zu Aids und weiblicher Genitalverstümmelung entwickelt. Sie und ihr Team finanzieren und überwachen Gastspielreisen der Gruppen in die Dörfer. Nach den Aufführungen gibt es immer Diskussionsrunden. Gern erzähle ich Ihnen mehr dazu. 

  

Die Verbreitung des Islamismus befördert auch Genitalverstümmelung 

 

Die Weiterverbreitung und die Zunahme der Opfer hat auch mit dem Vormarsch des Islamismus zu tun. Er hat sich zum Teil die uralten, noch vor den Religionen (Judentum, Christentum, Islam) entstandenen Traditionen der Genitalverstümmelung angeeignet, weil es in sein hierarchisch-patriarchal strukturiertes, sexualfeindliches Weltbild passt. Darin wird die Kontrolle der Sexualität und die Unterwerfung der Frauen unter die Männer, sowie der Jüngeren unter die Älteren als normal und richtig angesehen, als sogenannte „Ehre“, die es zu verteidigen gilt, „geadelt“ und zum Teil noch zusätzlich mit religiösen Gründen „gekrönt“. Denn all das befördert das archaische Machtgefüge der Dominanz des Stärkeren.

 

Wir brauchen mündige BürgerInnen - und nicht beschnittene 

 

Ja, diese Entwicklungen - und nur diese - müssen wir, finde ich, dringend und intensiv bekämpfen! Sie bedrohen die von der Weltgemeinschaft - und eben nicht nur von „unserem westlichen Abendland“ - definierten allgemeinen Menschenrechte und damit die Basis unserer demokratischen Gesellschaft. 

 

Demokratie braucht mündige Bürger, braucht Vielfalt, aber nicht Dominanz. Und ein solches Demokratieverständnis müssen wir Einwanderern abverlangen oder beibringen, sofern sie es nicht mitbringen. Wir dürfen Einwanderer und Menschen, die sich der muslimischen Religion verbunden fühlen, aber nicht per se mit Islamisten und der Bedrohung, die diese für unsere freie Gesellschaft darstellen, gleichsetzen. 

 

Auch hier braucht es Aufklärung und differenziertes Hinschauen. Ich möchte Ihnen dabei Seyran Ates und die von ihr gegründete Ibn-Rushd-Goethe-Moschee ans Herz legen, sowie ihr Buch: „Der Islam braucht eine sexuelle Revolution“. Es ist dabei, sich über Deutschland hinaus in liberalen islamischen Kreisen zu verbreiten. Auch Seyran Ates unterstützt die Forderungen nach genitaler Selbstbestimmung für alle Kinder. 

 

Beide Anträge betrachten nur die Spitze des Eisbergs. 

Wirksamer Kampf gegen weibliche Genitalverstümmelung aber braucht einen systematischen Blick.

 

In allem, was Sie zur weiblichen Genitalverstümmelung richtig beschrieben haben, und die Handlungsideen, die Sie daraus ziehen, fehlt die Betrachtung der tieferen Zusammenhänge: warum Frauen beschnitten werden: wem das dient, warum es seit Jahrtausenden gemacht wird, und vor allem, wie stark all dies mit der männlichen Beschneidung zusammenhängt, wie beides Teil der gleichen europäischen Medizingeschichte oder des gemeinsamen patriarchalen Systems ist. Ich finde, wenn man das nicht in den Blick nimmt, hat das Auswirkungen auf die Nachhaltigkeit des gesamten Kampfes gegen die Mädchenbeschneidung.  

 

Die mangelnde Wirksamkeit von §226a StGB

 

Der AFD-Antrag beschreibt das Problem, dass in den sechs Jahren, seit die weibliche Genitalverstümmelung mit §226a StGB ein Straftatbestand ist, tatsächlich noch keine Straftat erfasst oder angezeigt wurde, dass also „der Wirkungsbereich der Norm sehr gering ist“. 

 

Es ist gut, dass das Gesetz existiert. Damit ist eine Norm gesetzt, an der man sich orientieren und die man vertreten kann. Aber welches Mädchen, welche Frau wird Ihre Eltern, die ihr das angetan haben, verklagen? Eine solche Frau müsste schon sehr gestärkt sein von einem völlig anderen Lebensumfeld als das, aus dem sie kommt. Mit so einer Anklage verliert sie jede Lebensgrundlage in der Gesellschaft, in der sie normalerweise völlig machtlos eingebettet ist. Wichtig wäre hier, dass es keinerlei Verjährungsfristen gäbe. 

 

Gerade ist der Film „Nur eine Frau“ über Hatun Sürücu in die Kinos gekommen. Er zeigt das Schicksal dieser so mutigen Frau, die sich gegen ihre Zwangsheirat wehrte - bis ihr Bruder sie erschoss. Das ist leider kein Einzelfall. Nach gerade publizierter Recherche von Terre des Femmes gab es allein in den letzten 12 Monaten in Deutschland mindestens acht Ehren-Morde. Beschnittene und zwangsverheiratete Frauen sind Opfer des gleichen Systems, in manchen Frauenleben kommt beides zusammen vor: Das System besteht aus einer Familie und einem Umfeld, die alle in dem gleichen Geist erzogen wurden, ein Geist, zu dem Beschneidung und Kontrolle der Sexualität gehört.

 

Aber selbst wenn eine Frau ihre Beschneidung anklagen würde, käme das nächste Problem vor Gericht: 

 

Eingestellter Prozess trotz xfacher Mädchen-Beschneidung in den USA

 

In Michigan sind im 1. Prozess, den es in den USA zu Fällen weiblicher Genitalverstümmelung gab, mehrere Ärzte wegen xfacher, im medizinischen Umfeld ausgeführter Klitorisbeschneidung angeklagt worden. Das Verfahren wurde Ende 2018 eingestellt, weil das Gesetz, auf das man sich berief, vor Gericht als verfassungswidrig eingestuft wurde. Hier Brian Earp, Forscher in Praktischer Ethik, Philosophie und Sozialpsychologe an der Universität Oxford, und seine  Analyse über die Folgen dieses Urteils. 

 

Wie es vermutlich in Deutschland laufen würde

 

Jeder deutsche Verteidiger einer Beschneiderin würde sich im Anklagefall berufen auf den §1631d BGB, der seit 2012 Genitalbeschneidungen an Jungen ausdrücklich erlaubt, während Mädchenbeschneidungen seit 2013 verboten sind. 

Verteidiger in Deutschland könnten mit Recht argumentieren, dass das Vorhandensein dieser beiden Gesetze dem Gleichheitsgrundsatz unseres Grundgesetzes widerspricht und somit verfassungswidrig ist. Sie könnten auch sagen, dass weniger invasive Beschneidungsformen, wie Klitorisritzen weniger schlimm sind als das, was Jungen erleben müssen, denen bei einer Vorhautamputation bis zu 50% der Haut ihres Sexualorgans entfernt wird: und zwar der mit der größten Nervendichte ausgestattete Teil des Penis (vergleiche Sorrells, 2006). Den Jungen wie den Mädchen werden bei der Beschneidung wichtige Teile ihrer sexuellen Empfindungsfähigkeit geraubt. 

 

Übrigens befindet sich der weit größere Teil der Klitoris mit ihren Schwellkörpern unterhalb der Haut im Körper, insofern liegt der im AFD-Antrag zitierte Gynäkologe falsch in seiner Aussage, dass eine Klitorisamputation mit einer Penisamputation vergleichbar sei.

Der plastische Chirurg Dr. O´Dey, der in Aachen Klitorisrekonstruktionen macht, baut die äußerlich sichtbare Klitoris aus Ersatzgewebe nach und vernetzt sie neu mit den Nerven der innerlich, selbst nach schlimmster Genitalverstümmelung immer noch vorhandenen Klitoris. Dies nur nebenbei mit der Bitte, solch populistische Vergleiche bitte wegzulassen. Sie suggerieren subtil, wie „barbarisch“ diese Rituale doch sind und wie toll wir, das wir „sowas Schreckliches“ bei uns nicht haben. 

Und am besten damit gleich alle Vergleichsüberlegungen weglassen, denn die Folgen beim Abwägen von Vergleichbarkeiten wurden in juristischen Kreisen schon vorgedacht und führten 2014 zur Schlussfolgerung, dass man die „harmlosen“ Genitalbeschneidungen an Mädchen erlauben müsse. Der Bundesverband der Kinder- und Jugendärzte hat dies  am 9.11.14 scharf kritisiert

 

Kann eine Genitalbeschneidung harmlos sein? Ein Eingriff, der sehr schmerzhaft ist, die sensibelste Stelle des weiblichen wie des männlichen Sexualorgans beschädigt oder zerstört und mit ihr das Urvertrauen eines Kindes in seine nächsten Bezugspersonen? Weder für ein Mädchen noch für einen Jungen noch für ein intersexuell geborenes Kind ist so eine Erfahrung harmlos! Und die Folgen sind es für viele auch nicht. 

 

Aber so ein Gerichtsurteil wäre denkbar. Es wäre allen Befürwortern der weiblichen Genitalverstümmelung Wasser auf ihre Mühlen und ein riesiger Rückschritt im Kampf gegen die weibliche Genitalverstümmelung. 

 

Hier müssten Juristen beauftragt werden, die die vorhandenen Gesetze auf ihre Wirksamkeit im Ernstfall überprüfen. Ich empfehle hierfür die Strafrechtler Rolf Dietrich Herzberg, Holm Putzke, Jörg Scheinfeld und Ralf Eschelbach, Richter am Bundesgerichtshof, die bereits ihre warnende Stimme erhoben haben. 

 

Er steht bereits in Ihren Anträgen, müsste nur auf alle Kinder bezogen werden: 

„Genitalverstümmelung an ALLEN Kindern muss entschieden entgegen getreten werden.“

 

Das System, in dem Beschneidung stattfindet

 

In allen patriarchalen Gesellschaften, die die Frauen beschneiden, werden auch die Männer beschnitten. Das gehört zutiefst zusammen. Siehe hierzu meine Betrachtung: "Weibliche Genitalverstümmlung versus Jungen-"Beschneidung - Mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede". 

Die Mythen, die dazu erzählt werden, lauten, egal ob für den Jungen oder für das Mädchen: 

- Die Beschneidung reinigt von etwas Bösem. 

- Sie ist ein Opfer an die Götter. 

- Sie macht den Mann erst zum "Mann" und die Frau erst zur "Frau". 

 

Beschneidung - ein Akt der Loyalität gegenüber den Eltern 

 

Wenn man dies oft genug erzählt und dann auch noch ins Fleisch geschnitten bekommen hat, glaubt man das zutiefst und tut es seinen Kindern wieder an. Dies schon deshalb, weil man die eigenen Eltern von dem Vorwurf, sie hätten einem etwas Schlimmes angetan, in der eigenen Seele entlasten muss. Die Verletzung des Urvertrauens würde sonst unerträglich. 

 

Das sind die tiefenpsychologischen Muster, die hier wirken und die verständlich machen, warum diese Traditionen so tief wurzeln und seit Jahrtausenden immer noch weiter gegeben werden, selbst im 21. Jahrhundert, vergleiche Prof. Dr. med. Matthias Franz, Universität Düsseldorf, Psychoanalytiker, u. a. in seinem Vortrag: "Genitalbeschneidung: Patriarchalische Loyalität statt Bindung?“

 

Eltern, die ihre Kinder beschneiden lassen, lieben ihre Kinder und wollen - wie alle Eltern - nur das Beste für sie. Aber sie handeln mitunter aus einem inneren Zwang der Wiederholung dessen, was sie selbst erlebt haben. Wenn sie das nicht verinnerlicht hätten, müssten sie sich der Tatsache stellen, dass ihre Eltern ihnen Schlimmes angetan haben. Es ist für manche Menschen so schlimm, das zu konfrontieren, dass sie lieber ihre Kinder erneut verletzen und emotional ausfallend werden, wenn man das Thema berührt. Oder aber: sie stehen innerhalb ihrer Familie und oder der gesellschaftlichen Gruppe, in der sie leben, in einem womöglich unüberbrückbar scheinenden Spagat, was ebenfalls zu hochemotionalen Reaktionen führen kann. Daher muss das Vorgehen empathisch sein, sachlich und wissenschaftlich fundiert, nicht emotionalisiert und empört. 

 

Frauenbeschneidung ist nicht nur Frauensache

Es wird oft erzählt, Frauenbeschneidung sei Frauensache, die Männer hätten damit nichts zu tun.

Tatsächlich hat sich hier ein Mythos verselbstständigt und die Menschen kennen die Wurzeln ihres Tuns nicht mehr. Die vermutlich analphabetische Beschneiderin, die ich bei den äthiopischen Afar zu ihrem Tun befragte, erklärte mir wörtlich: „Der Koran verlangt das, die Bibel“, was beides nicht stimmt, aber bevor Waris Dirie mit ihrer Geschichte an die Öffentlichkeit ging, allgemein so geglaubt wurde, weshalb man sich nicht einmischen wollte in fremde Kulturen oder die Ausübung ihrer religiösen Riten. So war es vor 30 Jahren, als die Mädchenbeschneidung bekannt wurde, und so läuft es heute noch bei den Jungen. 

 

Und außerdem sagte die Beschneiderin in völliger Verkennung von Ursache und Wirkung: 

„Die Babies schreien immer, weil es da immer juckt. Sie hören erst auf zu schreien, wenn man ihnen ihr Ding abschneidet“.  

Das ist der zweite Punkt in der Geschichte: Es fehlt den Ausführenden das medizinische Wissen. Bei den Mädchen haben wir inzwischen aufgeholt. Bei den Jungen ist Nachholbedarf.

 

Beschneidung ist eine Machtausübung: 

der Männer über die Frauen und der Älteren über die Jüngeren

 

Tatsächlich sind die Buschneiderinnen Ausführerinnen eines Machtausübungsrituals der Älteren über die Jüngeren, das sich über Jahrtausende verselbstständigt hat unter den Frauen, aber immer dem Machterhalt der Mächtigsten der ganzen Gruppe dient, hierarchisch geordnet in dieser Reihenfolge: den älteren Frauen, den Männern und am allermeisten dem ältesten Patriarchen. Der wiederum richtet seine „Soldaten“, die jüngeren Männer, die ihm als Aufpasser über die „Ehre“ der Frauen in der Familie dienen, ebenfalls ab, ihm zu gehorchen und zwar mit der gleichen Methode (vergleiche die Analysen, wie die patriarchalen Gesellschaften funktionieren, von Necla Kelek in ihrem Buch: „Die verlorenen Söhne: Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes“, von Ahmet Toprak in seinem Buch „Das schwache Geschlecht - Die türkischen Männer: Zwangsheirat, häusliche Gewalt, Doppelmoral der Ehre“,  von Prof. Matthias Franz  sowie mein Radiofeature, in dem ich die Bücher von Kelek und Toprak vorgestellt habe).

 

In der Tat wissen manche Männer nichts über die Frauenbeschneidung, weil sich der Brauch so verselbstständigt hat, die Schwiegermütter für ihre Söhne die Beschneidung der zukünftigen Braut arrangieren und kontrollieren, das System des Gehorchens der Jüngeren gegenüber den Älteren perfekt läuft und so fortgeführt wird. Die Schwiegermütter machen mit, denn erst, wenn sie in so einer Gesellschaft über eine Schwiegertochter bestimmen können, sind sie auf dem Zenith ihrer Macht. Necla Kelek hat das sehr gut erklärt in meinem Dokumentarfilm über die Zwangsheirat „Iss Zucker und sprich süß“.

 

In den Gesellschaften, in denen Frauen beschnitten und / oder zwangsverheiratet werden, sind die Männer die Bestimmer. Die Frauen werden beschnitten, um sie „attraktiv“ zu machen für die Heirat, also gefügig, gehorsam, nur dem Ehemann gehörend. Vergnügen an der Sexualität ist verboten, nach dem Eingriff auch stark reduziert, wenn nicht versagt. 

Die Mütter wissen, dass Frauen einen Ehemann zum Überleben brauchen. Deshalb beschneiden sie ihre Töchter. Es ist in diesem System einfach nicht vorgesehen, dass eine Frau selbstbestimmt leben und ihren eigenen Lebensunterhalt verdienen kann. So ist jede Frau und jeder Mann Rädchen in diesem System der Über- und Unterordnung und hält es in der jeweiligen Rolle am Laufen - auch die Frauen ganz unter sich.

 

Wie das Mädchen bei der Mädchenbeschneidung von den alten Frauen ergriffen, runtergedrückt (also erniedrigt) und dann beschnitten wird, passiert das genauso mit dem Jungen. Die Jungen werden vor allem im traditionell muslimischen Kontext auf dem Höhepunkt der ödipalen Verliebtheit in die eigene Mutter dem Kreis der Mütter entrissen, vom Kreis der alten Männer ergriffen, niedergehalten und beschnitten. Das Ergebnis führt tiefenpsychologisch zur Identifikation mit den Tätern und unbewusst zu einem tiefen Misstrauen der Männer gegen die Frauen, weil die Mutter, die sie hätten schützen müssen, dies nicht getan hat. 

Das ausgeprägte Misstrauen und der Frauenhass in patriarchalen Gesellschaften ist, so Matthias Franz, stark aus dieser Enttäuschungserfahrung genährt. Und das Aufnahmeritual in den Kreis der TäterInnen verlangt dem Kind ab, selbst bei der größtmöglich empfundenen existenziellen Bedrohung, die das Kind bei der Beschneidung empfindet, die Zähne zusammen zu beißen und keinen Schmerz zu zeigen, um so „ein Mann“ oder „eine Frau“ zu werden. 

 

„Frausein", „Mannsein“, was heißt das also? 

Sind selbst verleugnen, soweit es noch irgend geht, lächeln, mitmachen, schweigen, eigene Gefühle verleugnen, sich dem Diktat der Gruppe unterwerfen, gehorchen … 

 

Und nach der Tortur der Beschneidung werden die Opfer beschenkt und gefeiert. Das Tun wird mit heiliger Tradition begründet - was mehrere tausend Jahre alt ist, kann ja nicht falsch sein. Doch kann es! 

 

Oder noch stärker: es wird religiös überhöht. So wird das Leid, das der Beschneidung folgt, tabuisiert. Über Sexualität spricht man in diesen Gesellschaften sowieso nicht offen. Also kann man sich auch nicht über die damit verbundenen Folgen austauschen, sie also auch nicht erkennen. Zum Teil werden auch Drohungen ausgesprochen, darüber zu sprechen, wenn nicht allein die traumatisierende Erfahrung schon diese Wirkung hat.

 

So erzeugt man keine mündigen Bürger, die unsere demokratische Gesellschaft aber braucht. 

Auch deshalb muss Beschneidung an allen Kindern unterbunden werden! 

 

Warum sollte ein Vater, der die größte Macht in diesem System hat, 

seine Tochter vor Beschneidung schützen? 

 

Wie also will man einen Vater, dem es ins eigene Fleisch geschnitten wurde, dass er nur zum „Mann“ werden konnte, indem er diese Tortur über sich ergehen ließ, nahebringen, dass er seine Tochter schützen soll? Wo doch für ihn „Mann“- und „Frau“werdung durch die Beschneidung erst vollzogen wird? Und womöglich noch ein heiliger Akt ist. Dieses System kann nur aufgebrochen werden, wenn Mädchen wie Jungen vor diesem Brauch geschützt werden, wenn sie die Chance bekommen, anders aufwachsen zu können. 

 

Die gesetzlichen Grundlagen sind alle bereits vorhanden:

• Artikel 1 unseres Grundgesetzes „Die Würde des Menschen ist unantastbar …“ 

• Artikel 2 unseres Grundgesetzes: "Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit ..." 

• Gleichheitsgrundsatz, „Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren“

• UN-Kinderrechtskonvention

• UN-Konvention zur Abschaffung schädlicher Bräuche … 

• Kinderschutz

• Kindeswohlgefährdung.

2016 habe ich dies zusammen mit dem Kinderchirurgen Dr. Kolja Eckert auf dem Kongress der Kinderschutzzentren vorgetragen. Unser Kapitel im Kongressbuches.  

 

Warum fällt die Anwendung so schwer? 

 

Prof. Matthias Franz, Universität Düsseldorf, der seit gut 20 Jahren zu den tiefenpsychologischen Wirkungen der Beschneidung forscht, schreibt 2014 mit anderen AutorenInnen im Buch „Die  Bescheidung von Jungen - Ein trauriges Vermächtnis“ :

 

Wie wir in Deutschland mit Kindern umgehen … hat viel mit dem Gewaltpotential in unserer Gesellschaft und der Zivilisierung unseres Umgangs miteinander zu tun ….“

„Ein demokratisch geregelter und wissenschaftlich fundierter Diskurs, auch über kinder- und körperverletzende Rituale, ist … nötig. Er wird aber beeinträchtigt durch Ängste um die eigene Identität und den Verlust gruppaler Zusammengehörigkeit, durch Ängste vor Kastration und existenzielle Bedrohungen. Vor allem aber findet er im Horizont antisemitischer Verstrickungen und der nationalsozialistischen Verfolgung und Ermordung der Juden in Europa und dem dadurch bis heute verursachten großen Leid statt. Aus diesen Gründen wird die aktuelle Beschneidungsdiskussion und ihre politische Instrumentalisierung zeitweise weniger von Fakten also von religiös-dogmatischen Setzungen, heftigen Polarisierungen und Unterstellungen bestimmt“ (Franz in der Einleitung zu „Die Beschneidung von Jungen - Ein trauriges Vermächtnis“, S.9).

 

Am Ende lässt sich das alles aber auf diese beiden Sätze reduzieren :

 

„Man tut Kindern nicht weh“ und: 

„Erwachsene haben an den Genitalien von Kindern nichts verloren“

 

Sätze, die Prof Matthias Franz immer wieder in seinen Vorträgen wiederholt. 

 

Auch Fatma Bläser und Seyran Ates, zwei Frauen, die in Deutschland mit Bundesverdienstkreuzen ausgezeichnet wurden, und auch die Soziologin Necla Kelek, die ebenfalls mit diversen Preisen ausgezeichnet wurde, sie alle sind, so wie ich auch, im Lauf der Jahre ihrer Arbeit zu der Erkenntnis gekommen, dass man, wenn man das System der Frauenunterdrückung aufbrechen will, auch mit den Männern arbeiten, also einen systemischen Ansatz verfolgen muss. Alle drei Frauen gehören mit den von ihnen gegründeten oder vertretenen Organisationen (Hennamond, Ibn-Rushd-Goethe-Moschee und Terre des Femmes) zu den UnterstützerInnen des Welttags der genitalen Selbstbestimmung

 

Es braucht einen neuen ganzheitlichen Ansatz

Der systemische Ansatz, der Mädchen und Frauen, Jungen und Männer sowie intersexuelle Menschen gleichermaßen einbezieht und bei den Kindern und ihrem Schutz vor diesen Übergriffen anfängt, egal welchen Geschlechts sie sind, müsste meiner Ansicht nach dringend aufgenommen werden in Ihre Anträge, um dem Problem der weiblichen Genitalverstümmelung wirklich an die Wurzeln zu gehen.

 

Der Weg dahin: erst mal vor der eigenen Türe kehren

 

Genitalbeschneidungen - 300 Jahre medizinisch begründeter Misshandlungen in Europa

 

Noch bis in die 40er Jahre des letzten Jahrhunderts war es üblich, dass Frauen medizinisch begründet mit Karbolsäure die Klitoris verätzt wurde und zwar mit der Empfehlung versehen, dies ohne Betäubung zu tun, um damit Strafe zu verbinden. So sollte die angeblich gesundheitsschädigende Masturbation unterbunden, sollten „hysterische“ Frauen „geheilt“ werden. John Harvey Kellogg, der Erfinder der Corn Flakes, hat mit seinen Positionen zur Sexualität dazu massgeblich beigetragen.

 

Es ist Zeit, dass wir uns hier auch unserer eigenen Schuld bewusst werden und aufhören, mit dem Finger auf „die anderen“ zu zeigen, dass wir aufräumen mit dieser fast 300jährigen sexualfeindlichen Medizingeschichte, die Genitalverstümmelungen auch in Europa hoffähig gemacht hat. Von hier nämlich wurden sie nach Amerika getragen und leben in der routinemäßigen Jungenbeschneidung gleich nach der Geburt noch immer weiter. Auch diese wurde im viktorianischen England erfunden, auch hier um Masturbation zu verhindern, die man für die Quelle aller erdenklichen unerklärlichen Krankheiten hielt.

 

Und dieser Trend läuft weiter um den Erdball. Männliche Massenbeschneidungen - umfangreich finanziert von der Bill & Melinda Gates-Stiftung - werden seit 2007 im Mantel einer fragwürdigen, da wissenschaftlich stark umstrittenen Aids-Prävention nach Afrika getragen, dies obwohl die Beschneider nicht mehr versprechen, als das Ansteckungsrisiko damit um 60% senken zu wollen, während Kondome 90% Schutz vor Ansteckung bieten.

Die moderne Medizin liefert so in Afrika zusätzliche Gründe für die weiterhin vorhandenen archaischen Rituale, die immer wieder jungen Männern das Leben oder den Penis kosten. Unter anderem dieser Artikel in Geo, das VMMC-Project, und seine Gründerin Tess Fish, eine junge amerikanische Wissenschaftsredakteurin aus jüdischer Familie, erzählen, was hier vor Ort tatsächlich passiert, wieviel Druck erzeugt wird und dass dort auch Kinder im Namen von Aids-Prävention massenhaft beschnitten werden. 

 

Aber statt auf der Ebene der Menschenrechte klar Position zu beziehen, feierte die moderne Medizin vor ein paar Jahren stolz die 1. gelungene Penistransplantation eines jungen Südafrikaners und verharmloste das alles später mit der Meldung, der junge Mann sei nun Vater geworden. So wie es in der Debatte immer wieder vorkommt, dass Sexualität auf Reproduktionfähigkeit reduziert wird - die alten sexualfeindlichen Positionen der Religionen. 

 

Zahlen zur Jungenbeschneidung: 

religiös und traditionell sind nur wenige 

 

In der Recherche zu meinem Vortrag „Das Beschneidungs-Erlaubnisgesetz und seine Resonanz in Medien und Organisationen“, den ich im Rahmen des Fachtages "Jungenbeschneidung in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme" an der Universität Düsseldorf hielt, wurde mir erst richtig klar, wie schräg die Berichterstattung zum Thema "Jungenbeschneidung" war und ist, fast immer fokussiert auf die jüdische Beschneidung.  

 

Meine Medienanalyse ergab: 

• falsche Polarisierung: schlimme weibliche Genitalverstümmelung versus harmlose Jungenbeschneidung

• praktisch immer, wenn von Jungenbeschneidung die Rede, ist, sind es „die anderen“: “die Juden" zuallererst, dann "die Moslems“, schließlich "die Afrikaner“ und bei denen ist es „barbarisch“. 

• Die Zeitungen verwenden fast immer nur Bilder dieser Kulturkreise, um das Phänomen der männlichen Beschneidung zu bebildern. Gerade jetzt auch schon wieder für den guten Artikel in der Frankfurter Rundschau zum 7. Mai 2019 “Es geschah mit lokaler Betäubung“ - Interview mit den Betroffenen Victor Schiering und Önder Özgedey.

So verhindern wir erfolgreich das Kehren vor unserer eigenen Türe. Und das wäre dringend nötig. Das hat der Fachtag Jungenbeschneidung in Deutschland. Eine Bestandsaufnahme im Mai 2017 sehr deutlich gezeigt. Mein Bericht darüber.

 

Das zahlenmäßig größte Problem sind die falschen Phimosebeschneidungen

 

Schon 2014 hatte der Kinderarzt Dr. Christoph Kupferschmid in der Fachzeitschrift des BVKJ „Kinder- und Jugendarzt“ (Heft 07/14, Heftdownload hierim Artikel „Beschneidung - In erster Linie ein medizinisches Problem“  dargestellt, dass wir uns dringend der medizinischen Fehlbehandlung widmen müssten und dass jüdische Religion und muslimische Tradition hierbei zahlenmäßig ein Randthema ist: 

 

Laut Kindergesundheitsbericht (KIGGS) des Robert-Koch-Institutes von 2007 waren 10,9% aller Jungen unter 18 Jahren in Deutschland beschnitten. Damit rechnete Kupferschmid vor: 

 

„2007 lebten in Deutschland etwa 7 Mio Jungen unter 18 Jahren. Davon waren nach KIGGs-Daten etwa 760.000 beschnitten. Bei einem Ausländeranteil von 11% der Bevölkerung hatten etwa 6,2 Millionen Jungen keinen Migrationshintergrund, von diesen waren 9,9% oder 640.000 beschnitten.“ 

 

Die Verteilung der Jungenbeschneidung in den verschiedenen Bevölkerungsgruppen laut KIGGS:

- mit Migrationshintergrund 15,3%, 

- mit türkischem Hintergrund 27,5% 

- ohne Migrationshintergrund 9,9% aller Jungen

 

10,9% aller Jungen in Deutschland, minus 9,9% aller Jungen, die ohne Migrationshintergrund beschnitten sind. D.h: lediglich 1% aller in Deutschland lebenden Jungen waren aus religiösen oder traditionellen Gründen beschnitten worden!

 

Die neue Phimoseleitlinie, die sechs deutsche Ärzteverbände im Dezember 2017 herausgegeben haben, betont die Funktion der männlichen Vorhaut, rät von routinemäßigen Jungenbeschneidungen ab und erklärt frühere Lehrmeinungen, nach denen ein Junge bei Schuleintritt eine komplett zurückziehbare Vorhaut haben müsse, für überholt. Denn neuere Forschungen beschreiben Entstehung und Ausdifferenzierung von Vorhaut und Eichel aus EINEM Embryonal-Gewebe, das bei der Geburt oft noch stark verwachsen ist, sich dann zunehmend trennt und dessen Entwicklung tatsächlich in vielen Fällen erst am Ende der Pubertät abgeschlossen ist.  

In der Phimoseleitlinie heißt es auch: Nur 0,6-1,5% aller Jungen müssten am Ende wirklich aus medizinischen Gründen beschnitten werden. 

 

Krankenhäuser wie etwa das Elisabeth-Krankenhaus in Essen oder die Knopf´sche Kinderklinik in Nürnberg, die sich an diesen Erkenntnissen schon länger orientieren, haben in den letzten Jahren ihre Beschneidungsraten um über 90% gesenkt! 

 

Wenn also bei maximal 1,5% der 2007 in Deutschland lebenden 7 Mio Jungen unter 18 Jahren eine Vorhautbeschneidung medizinisch begründet nötig war, dann heißt das: Von 1990 bis 2007 wurden circa 655.000 Jungen in Deutschland medizinisch falsch behandelt. Das sind mindestens 38.500 Fehlbehandlungen jedes Jahr! Vergleichen Sie das mal bitte mit den Zahlen zur weiblichen Genitalverstümmelung in Deutschland!

 

Vergleicht man diese mindestens 38.500 Fehlbehandlungen pro Jahr mit den circa 100.000 Männern und Frauen aller Altersgruppen, die in Deutschland der jüdischen Gemeinde angehören, dann wird schnell deutlich, dass das Thema "Jungenbeschneidung"  in Wirklichkeit wohl pro Jahr nur eine höchstens dreistellige Zahl von Jungen betrifft, die nach jüdischen Ritus beschnitten werden. Aber über die reden wir ständig. Das ist auch eine Art von Antisemitismus.

 

Es gibt auch beschneidungskritische Juden.

Der ständig bemühte Antisemitismus-Vorwurf gegen jegliche Beschneidungskritik ist nicht zutreffend.

 

Jüdische Gruppen haben mit der Brit Shalom Alternativ-Rituale entwickelt:

http://www.kahal.org

https://www.facebook.com/Jews-Against-Circumcision-165424110207450/

https://benshalem.weebly.com

 

Unter anderem war Sigmund Freud ein prominenter jüdischer Kritiker, ebenso Abraham Geiger, der Begründer des liberalen Judentums, das im 19. Jahrhundert von Deutschland aus die jüdische Welt eroberte. Hier eine aktuelle beschneidungskritische Position zur isländischen Debatte über ein Beschneidungsverbot für alle Kinder. 

In Israel wird die Brit Shalom öffentlich diskutiert - immer wieder. Jüdische Filmemacher wie Ari Libsker machen kritische Filme. Hier sein Film: Circumcision und ein Zusammenschnitt der Podiumsdiskussionen bei seinem Besuch in Deutschland 2016. 

 

Auch sind längst nicht alle Juden in Deutschland beschnitten, besonders die nicht, die aus Russland zugewandert sind, was man aber nur „unter der Hand“ erfahren kann. Niemand mag sich hierzu als offizielle Quelle outen. Der Druck der Gruppe, hier ein einheitliches Bild abzugeben, ist offenbar groß. Öffentlich festzustellen ist aber, dass diverse Menschen jüdischen Hintergrundes schon auf dem Welttag der genitalen Selbstbestimmung gesprochen haben:

 

Prof. Mikael Aktor - Religionswissenschaftler, Vize-Präsident von Intact Denmark, war auch Vortragender an der    

  Universität Düsseldorf

Dr. Jérôme Segal Universität Wien und Paris-Sorbonne, Mitglied der israelitischen Kultusgemeinde Wien, Autor des

  Beitrags aus jüdischer Sicht im Fachbuch: „Die Beschneidung von Jungen…“ 

Angelika Bergmann-Kallwass - Psychotherapeutin und TV-Moderatorin aus Köln 

Ari Libsker - Journalist und Filmemacher aus Israel

Max Fish, Wissenschaftsredakteurin und Gründerin des vmmcproject.org, USA

Shemuel Garber, der in seiner Bachelor-Arbeit Zusammenhänge zwischen jüdischer Beschneidung und den

  Routinebeschneidungen von Neugeborenen in den USA untersucht hat, Botschafter für intaktiv e.V.

 

Abschließend Prof. Franz und seine Abgrenzung zum Antisemitismus: 

„Es geht primär und ausschließlich um den Schutz aller Kinder vor dem verletzenden Zugriff patriarchalisch sozialisierter Erwachsener auf deren genitale Integrität. Das Recht des Stärkeren auf Kosten der Gesundheit und Unversehrtheit von Kindern durchzusetzen, stellt eine Verletzung der UN-Kinderrechtskonvention dar, die bereits vom Europarat verurteilt wurde und Gegenstand politischer Willensbildung beispielsweise in zahlreichen skandinavischen Länder ist. In diesem Sinne verstanden handelt es sich bei der Kritik an der auch außerhalb monotheistisch geprägter Kulturen praktizierten Beschneidung um eine pro-humane, an den menschenrechtlichen Grundlagen orientierte und nicht um eine antisemitische Haltung. Darüberhinaus gibt es keine medizinische Indikation und auch keine ethische Rechtfertigung dafür, als Arzt einem gesunden Jungen seine gesunde Vorhaut abzuschneiden.“ 

 

Aufklärung ist der 1. Schritt auf einem längeren Weg

 

Die Frauenunion NRW hat am 16. März 2019 auf ihrer Tagung in Neuss einstimmig verabschiedet, dass sie eine Kampagne zur Phimoseaufklärung in Nordrhein-Westfalen fordern wollen. Das ist ein sehr guter erster Schritt, dem sich auch die männlichen Abgeordneten öffnen sollten. 

 

Denn noch immer ist in vielen Köpfen eine Menge von der Wissenschaft längst Überholtes verankert: Jungenbeschneidung sei gut für die Hygiene, beuge Krankheiten vor, fördere gar die männliche Potenz. 

 

Auch kam 2015 das Buch von Clemens Bergner heraus: Enthüllt! Die Beschneidung von Jungen. Nur ein kleiner Schnitt? Betroffene packen aus über Schmerzen - Verlust - Scham. Bergner hat 77 betroffene Männer befragt, auch Frauen von beschnittenen Männern. Das Ausmaß an Verletzung, auch seelischer, das man hier von manchen Betroffenen erfahren kann, ist enorm. Interview mit dem Autor.

 

Was oft als Potenz verkauft wird, ist - so beschreiben es viele der Betroffenen - in Wirklichkeit ein hoher Sensibilitätsverlust, der es für manche sogar richtig anstrengend und langwierig macht, einen befriedigenden Orgasmus zu erreichen. Auch Frauen können hiervon als Partnerinnen unangenehm betroffen sein!

 

Damit will ich natürlich nicht allen Beschnittenen unterstellen, sie hätten Probleme. Tatsächlich haben aber einige Betroffene Probleme. Ich finde, sie müssen in ihrem Leid und ihren Beschwerden ernstgenommen werden und nicht, wie es leider immer noch geschieht, als „Weicheier“ abgetan.

 

Als das Jungenbeschneidungserlaubnisgesetz §1631d aus der Taufe gehoben wurde, wurden die Einwände der Betroffenen, die sich zu Wort meldeten, nicht angehört. Auch die Stellungnahmen der Kinder- und Jugendärzte wurden ignoriert. Zu sicher waren sich alle, dass das, was alle seit Jahrzehnten glaubten zu wissen, doch stimmen müsste. 

 

Selbst bei pro familia NRW, wo ich 2012 im Vorstand war, glaubten damals noch viele, was wahrscheinlich auch viele Abgeordnete bewogen hat, für den §1631d zu votieren: Mädchenbeschneidung schlimm - Jungenbeschneidung harmlos. Die Aufklärungskampagnen zur weiblichen Genitalverstümmelung hatten ja seit Jahren immer die schlimmste aller Beschneidungsformen, die Infibulation in den Vordergrund gestellt, eine Form, die etwa 15% aller Betroffenen erleiden. Ja, in diesem Vergleich ist die übliche Form der Jungenbeschneidung tatsächlich weniger invasiv. Im Mai 2018 hat die Bundesversammlung von pro familia nun mit allen neuen Erkenntnissen ihre Stellungnahme zur genitalen Selbstbestimmung verabschiedet.

 

2012 gab es noch viel Unwissen, die Beschneidungsdebatte wurde von einigen für Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit instrumentalisiert, die Emotionen schlugen hoch.

 

Es ist also nachvollziehbar wie es zum §1631d kam. Man wollte diese unangenehme Debatte beenden.

Man tat es auf dem Rücken der Kinder und ihrer Rechte, die lebenslange Auswirkungen davon tragen.

Dabei darf es nicht bleiben.

 

Es ist viel passiert seit 2012: es gab mehrere wissenschaftliche Kongresse. Kliniken haben ihre Jungenbeschneidungsraten um über 90% gesenkt. Sie haben aufgehört, nach der alten Norm zu operieren, ließen stattdessen beschwerdefreie Jungen in Ruhe. Wenn es Beschwerden gibt, behandeln sie erst mal geduldig mit Salben, greifen nicht mehr sofort zum Skalpell, operieren wenn doch noch nötig möglichst vorhaut-erhaltend.

 

In Island und Dänemark werden Gesetzesinitiativen diskutiert, die alle Kinder vor Beschneidung schützen wollen.

Alle relevanten Gesundheits- und Kinderrechtsorganisationen in Dänemark betrachten nicht-therapeutische Beschneidungen an Minderjährigen inzwischen als „unethisch, schädigend und potentiell gefährlich“. 85% der Öffentlichkeit und mehrere Parteien unterstützen die Initiative. Im Herbst 2019 wird der neue dänische Bericht über nicht-therapeutische männliche Beschneidung erwartet. Dann ist mit nächsten Schritten zu rechnen.  

 

Auch in England nimmt das Thema gerade Fahrt auf, nachdem die BBC am 5.3.19 eine 

10minütige Doku über männliche Beschneidung gebracht hat. Anlass war der Selbstmord des 23jährigen Alex, zwei Jahre nach seiner Beschneidung. Er schrieb im Abschiedsbrief an seine Mutter: "Ich bin damals gestorben, nicht jetzt“,  Artikel über Alex auf den BBC-Seiten, 17.4.19, darauf folgend weiterer Bericht am 12.5.19 über die Flut an Reaktionen von Männern, die sich auf die Geschichte von Alex bei der BBC gemeldet haben und noch ein Bericht vom 28.5.19. 15square.org.uk, die Organisation, die in England für genitale Selbstbestimmung aller Kinder streitet, meldet, sie hätten pro Tag normalerweise 60-100 Besucher auf ihrer Webseite. Am Tag des 1. Berichts über Alex gab es 2692 Besuche und seither haben sie soviel Anfragen pro Monat wie in allen Jahren zuvor. Auch Arte arbeitet nun an einer längeren Dokumentation.

 

In den letzten Monaten sind in Italien drei kleine Jungen bei „Küchentisch“-Beschneidungen umgekommen, vor einigen Monaten in Nürnberg ein kleiner Junge fast verblutet. 

 

Aufgrund des §1631d sind gerade an Säuglingen unter sechs Monaten in Deutschland solche Beschneidungen erlaubt. Sie dürfen sogar von Nicht-Ärzten ausgeführt werden. Und so werden sie fast immer ohne ausreichende Betäubung vollzogen, was die Kommission für ethische Fragen Kinderärzte der Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendmedizin schon 2012 ansprach und in einer weiteren Stellungnahme 2016 vertiefte. Die Phimoseleitlinie vom Dezember 2017 warnt, dass man selbst bei Beschneidungen im Krankenhaus mit Komplikationsraten von um 5% rechnen muss, dass eine Schmerzerfahrung in früher Kindheit zu irreversibel erhöhter Schmerzwahrnehmung führt usw usw. Siehe hierzu auch den Artikel von Dr. Christoph Kupferschmid, Zeitschrift Kinder- und Jugendarzt (Heft 4/18) SS. 206-207 sowie den Brief an den deutschen Ethikrat: Stellungnahme zur ungelösten Schmerzproblematik bei der Jungenbeschneidung.

 

Wenden Sie also bitte die Sätze, die so richtig in Ihren Anträgen stehen, auf alle Kinder an, denen dies angetan wird: 

„Genitalbeschneidung ist eine Menschenrechtsverletzung. Sie stellt einen Sorgerechtsmissbrauch dar und ist somit als eine Erscheinungsform von Kindeswohlgefährdung gem. §8a SGB VIII anzusehen.“ 

 

Auch weil alle Themen, die man zu Tabuthemen erklärt, irgendwann umso emotionalisierter wieder hochkochen werden. Für mich hat der wachsende Rechtspopulismus viel mit Versäumnissen der etablierten Politik und der Frustration der Menschen zu tun, die Probleme und Ungerechtigkeiten wahrnehmen, die die Politik wegen starker Lobbygruppen nicht angeht. Auch im Feld des Kinderschutzes empfinde ich schwere Versäumnisse. 

 

Abgesehen von der Moral: auch unser Grundgesetz verpflichtet! 

 

Sicherlich wird es erneut einen Sturm der Entrüstung von jüdischen und den muslimischen Verbänden geben, wenn man den §1631d wieder streichen und stattdessen verlangen würde, dass für eine nicht medizinisch indizierte Beschneidung die mündige Entscheidung eines volljährigen, bereits sexuell erfahrenen Menschen nötig ist, weil nur er/sie allein die Folgen dieses Eingriffes ahnen kann und nur er/sie dies ein Leben lang wird tragen müssen. 

 

Aber sind wir auf der Basis der allgemeinen Menschenrechte und unseres Grundgesetzes nicht verpflichtet, das auszuhalten, das zu diskutieren und zum Schutz der Kinder zu verlangen? Weil die Würde des Menschen unantastbar ist, der Mensch ein Recht auf Selbstbestimmung und körperliche Unversehrtheit hat und auf gleiche Behandlung. Ja und auch weil er/sie seine/ihre Religion selbst wählen können sollte. Weil die Freiheit der Eltern bei der Ausübung ihrer Religion vor den Menschenrechten ihres Kindes enden muss. 

 

 

Einige konkrete Vorschläge 

 

Eine neue gesellschaftliche Diskussion auf der Grundlage medizinischer Fakten könnte entstehen durch: 

•  eine Aufklärungskampagne, die die Verfehlungen der europäischen Medizingeschichte im Zusammenhang mit Genitalverstümmelungen an Kindern, Männern und Frauen und intersexuell geborenen Menschen in den Vordergrund stellt und sich der zahlenmäßig größten Opfergruppe widmet: den medizinisch falsch begründeten Phimose-Beschneidungen

•  die offensive Verbreitung des heutigen Wissensstandes zur Bedeutung der männlichen Vorhaut und der weiblichen Klitoris für Gesundheit und sexuelles Empfinden und die Warnung vor allen, mit solchen Operation verbundenen irreversiblen Folgen

•  die Bekämpfung der angeblichen Vorteile einer Jungenbeschneidung. Dies kann man sehr gut „verkaufen“ als Umsetzung der UN-Resolution, die zur Bekämpfung und Abschaffung schädlicher Bräuche verpflichtet. 

•  nach dem Vorbild der Schwangerschaftskonfliktberatung: die Einführung einer verpflichtenden Beratung vor jeder geplanten Beschneidung und zwar nicht durch den Arzt, der mit dem Eingriff Geld verdient, sondern durch dafür autorisierte Beratungsstellen. So könnte man auch allen verirrten Teenagern und deren Eltern mit Aufklärung begegnen, Mädchen, die von einer „Brötchenmuschi“ träumen, die keine Schamlippe sehen lässt

•  ein Register, in dem alle Beschneidungen dokumentiert werden, so wie das in Dänemark der Fall ist, 

•  ein Notruftelefon für Kinder, die sich vor einer drohenden Beschneidung fürchten und dann geschützt werden, wenn sie sich dort melden. Auch dies gibt es in Dänemark. 

•  eine offene Diskussion zu den Grundrechten: Würde, Selbstbestimmung, körperliche Unversehrtheit, Gleichheitsgrundsatz, Religionsfreiheit in Bezug auf Genitalverstümmlungen aller Art.  

 

Ich denke, wenn das Wissen um die Schädlichkeit von Beschneidungen und die Bedeutung der Menschenrechte in der Gesellschaft verankert worden sind, werden sicher einige Eltern - auch aus muslimischen und jüdischen Kreisen -  ins Grübeln kommen, ob sie das ihren Kindern wirklich noch antun wollen. 

Man muss nur bei den Radikalen die ganz dicken Bretter bohren, und da müssen wir sie auf jeden Fall bohren - und dort auch deutlich Grenzen aufzeigen.

 

Nur wenn man Steine ins Wasser wirft, können sie ihre Kreise ziehen 

 

Mogis e.V. ist ein kleiner Verein, der die Interessen von Betroffenen von Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung im Kindes- und Jugendalter vertritt. Victor Schiering, Sprecher des Arbeitskreises der Beschneidungsbetroffenen, hat mit seiner Gruppe den Welttag der genitalen Selbstbestimmung ins Leben gerufen. Im Rahmen der jährlichen Kundgebungen setzt Mogis und das inzwischen entstandene weltweite Aktionsbündnis jedes Jahr einen anderen Themenschwerpunkt und lädt Menschen aus aller Welt nach Köln ein. Sie zeichnen deren Reden und Forderungen nach genitaler Selbstbestimmung auf und stellen Sie ins Internet, siehe www.genitale-selbstbestimmung.de. Sie haben die Diskussion bereits angestoßen. 

 

Sie wollen damit erreichen, dass nachfolgenden Generationen nicht das angetan werde, was ihnen widerfuhr. Sie tun dies, trotz der erlittenen Verletzungen, an die sie dadurch zum Teil immer wieder auch schmerzhaft erinnert werden. Sie handeln in einer multikulturellen Gruppe von Aktivisten, die trotz unterschiedlichster kultureller Hintergründe sehr gut zusammen arbeitet. Sie unterhalten auch das beschneidungsforum.de, in dem Menschen mit Fragen zum Thema Beschneidung Antworten finden können. Sie sind ein schönes Beispiel von gelebter und gelungener Integration auf dem Boden unseres Grundgesetzes - international verbunden auf der Basis der Deklaration der allgemeinen Menschenrechte mit vielen Menschen, denen das Anliegen des Kinderschutzes wichtig genug ist, dafür ihre Stimme zu erheben. 

 

Hier die Rede von Victor Schiering zum Welttag der genitalen Selbstbestimmung 2018, in der er den Zusammenhang von weiblicher und männlicher Beschneidung deutlich macht und aufzeigt, was hier alles noch von Politik und Gesellschaft fehlt. Mogis und alle, die an diesem Aktionsbündnis teilhaben, haben auch schon sehr brauchbares Aufklärungsmaterialien entwickelt, das man aufgreifen könnte. 

 

Eine gerade gestartete Kampagne "Mein Körper: Unversehrt und selbstbestimmt" - Eine Aktion gegen Genitalverstümmelung in Deutschland wird jetzt unterstützt von der Naturkosmetikmarke Lush. Das Thema ist durch die neuen Medien inzwischen so populär geworden, dass es schon als Werbemittel dienen kann! Die international sehr erfolgreiche Werbeagentur Grey wirkt in Rahmen ihrer non-profit-Engagements mit. 

 

Umso wichtiger, dass das Thema nun auch von der Politik aufgegriffen und nicht den Populisten im Internet überlassen wird, die daraus ihr fremdenfeindliches Kapital schlagen !

 

Hier die  Abschlussresolution des Fachtages Jungenbeschneidung der Universität Düsseldorf, in der es einige weitere Vorschläge gibt, unter anderem die Forderung nach Unterstützung weiterführender Forschung. Die läuft auch schon, z.B: Studie zu psychischen Spätfolgen einer in der Kindheit erlebten Beschneidung

 

Und hier finden Sie die von mir gesammelten Links zu weiteren Stellungnahmen mit deren jeweiligen Forderungen und Ideen, sowie diverse sonstige Quellen. 

 

 

Abschließende Bitte

 

Beginnen bitte auch Sie, zum Beispiel zusammen mit Mogis, „Steine zu werfen“, auf dass sie kleine, feine Wellen schlagen mögen, die am Ende alle überzeugen können. Fein müssen sie sein, weil das Thema so sensibel ist, an so viele Tabus rührt und so viele Emotionen aufrühren kann. Also geführt von Menschen, die sich schon tief eingearbeitet haben und die die dafür nötige Empathie und Sensibilität schon mitbringen. 

 

Das bitte ich besonders die unter Ihnen, die sich um den „Fortbestand unserer abendländischen Kultur“ sorgen. Auch ich sehe Bedrohungen durch Extremisten, aber ich bin überzeugt: die Mehrzahl der Menschen kann im Miteinander und nicht im Gegeneinander erreicht werden. Und ja, bei manchen braucht es auch das Bestehen auf klar gezogenen Grenzen, die die Deklaration der Menschenrechte und unser Grundgesetz uns bieten. 

 

Danke, dass Sie sich die Zeit genommen haben, bis hierhin zu lesen. 

 

Waris Dirie sagte 1998, als ich sie interviewte: 

 

„If I can save one child, one mama, that´s my mission.“ 

 

Diesen Satz kann ich nicht mehr vergessen.